21.
Der Platz neben Julia war leer, als sie am nächsten Morgen wach wurde. Simon hatte den Wecker vor dem Klingeln ausgestellt, um sie nicht zu wecken. Sie drehte sich noch einmal um und mit einem Lächeln erinnerte sie sich an Simons Hände, die sie im Schlaf berührt hatten. Das war schön gewesen. Ein wenig wie ein Traum und doch wahr.
Es war schon kurz vor acht, als Julia das nächste Mal auf den Wecker sah. Sie sprang aus dem Bett und beeilte sich, in ihre Kleider zu kommen. Wenn sie zu spät ins Ranchhaus kam, waren Boyd und Simon möglicherweise schon unterwegs und sie würde Simon wieder den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen.
Aber Julia hatte sich unnötig Sorgen gemacht. Simon saß in der Küche und fütterte Tommy. Ada telefonierte. Das Protestwochenende rückte heran und sie wollte nach Eldora Valley ins Büro fahren, um Verschiedenes mit Veola zu besprechen. Es mussten Flyer gefaltet, E-Mails beantwortet und Telefonate geführt werden. Julia sollte helfen.
Die Aussicht, Veola zu begegnen und sich in ihrem Haus aufhalten zu müssen, behagte ihr wenig. Aber da auch Simon mitfahren würde – er sollte den geschweißten Greifer der Erntemaschine aus Franks Werkstatt abholen –, widersprach sie ihrer Großmutter nicht.
Insgeheim hoffte Julia, dass Jason zu Hause war. Vielleicht ergab sich die Möglichkeit, ihn unter vier Augen zu sprechen und ihm ein paar Fragen zu stellen.
Vor einem graublauen Fertig-Holzhaus mit Veranda setzte Simon sie ab. Julia gab ihm einen Kuss, bevor sie ausstieg, und er wurde rot, weil Ada es gesehen hatte. Dann fuhr er weiter zu Franks Reparaturwerkstatt.
Als Julia auf Veolas Veranda trat, bemerkte sie, dass das Haus ein paar Reparaturen und vor allem einen neuen Anstrich dringend nötig hatte. Die Farbe war abgeblättert und das blanke Holz kam darunter zum Vorschein.
Sie betraten einen dunklen Raum, der gleichzeitig Küche und Wohnzimmer war. Im Spülbecken stapelte sich das Geschirr. Ein großer, nagelneuer Fernseher dominierte die andere Hälfte des Raumes. Vor einer durchgesessenen Couch stand ein mit Papptellern übersäter Tisch. Berge von Zeitschriften türmten sich auf dem Boden. Außer einem Ölgemälde, das die Hügel hinter der Ranch zeigte, waren die Wände schmucklos. Julia sah sofort, dass es ein Bild ihres Vaters war. Er musste es vor langer Zeit gemalt haben, denn seine letzten Bilder waren von ganz anderer Art gewesen.
Veola saß nebenan in einem hell gestrichenen Raum am Computer. Es war das Büro der »Shoshone-Rights«-Organisation. Zur technischen Ausrüstung gehörten ein Telefon, ein Faxgerät, ein Kopierer, der Computer und ein funkelnagelneuer Laptop. Ein Gewirr aus Kabelschlangen wand sich über den Fußboden. In den Regalen an den Wänden stapelten sich Gesetzesbücher und beschriftete Ordner. Unter dem Fenster klapperte eine Klimaanlage.
Ainneen saß rauchend am Laptop und begrüßte Ada und Julia mit überschwänglicher Freundlichkeit.
Veola ließ ein knappes Hallo verlauten, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
Julia bekam einen Platz am Tisch, wo ein Stapel kopierter Blätter darauf wartete, zu Flyern gefaltet zu werden. Sie machte sich gleich an die Arbeit. Veola, Ainneen und Ada diskutierten über das Friedenscamp und den Protestmarsch. Bisher hatten sich rund achtzig Leute angemeldet. Ada hoffte, dass noch ein paar mehr kommen würden.
»Früher waren wir fünf Mal so viele«, beklagte sie sich seufzend. »Die Anteilnahme der Leute lässt zu wünschen übrig, obwohl das Ganze so brisant ist wie nie zuvor. Bush reichen seine Spielplätze im Irak und in Afghanistan nicht mehr aus. Er will wieder Atombomben testen und »Divine Strake« ist der erste Schritt seiner neuen Strategie. Leider kümmern sich die Menschen nur um das, was vor ihrer eigenen Haustür geschieht.«
»Keine Sorge«, meinte Veola, »sie werden schon kommen.«
Julia überflog den Flyer, den sie gerade faltete, und erfuhr, dass »Divine Strake« eine sogenannte Bunkerbombe war, die in unterirdischen Atomanlagen im Iran oder in Nordkorea zum Einsatz kommen sollte. Bei diesem Projekt sollte ihre Sprengkraft getestet werden.
Angesichts der Sorgen, die ihre Großeltern um die Erhaltung der Ranch hatten, erschien Julia die Rettung der Welt eine Nummer zu groß. Es war etwas, das man in der Tagesschau sah, das beängstigend war, wogegen man jedoch nicht wirklich etwas ausrichten konnte.
Das Wochenende würde an Adas Kräften zehren. Kräfte, die sie für ihren Kampf gegen die Minengesellschaft und das BLM viel dringender brauchte. Julia sah ihre Großmutter an, sah sie mit anderen Augen. Sie begriff, dass Ada Temoke eine alte Frau war. Alt und müde.
Simon parkte den Truck auf Franks Hof, der beinahe vollständig mit alten Autoteilen zugestellt war. Splash, Franks Dobermann, zog an seiner Kette und bellte.
Simon stieg aus, ging zu ihm hin und redete beruhigend auf ihn ein. Der Hund hörte auf zu bellen, er ließ sich von Simon sogar den Kopf kraulen. Bis Splash das zugelassen hatte, waren einige Monate ins Land gegangen.
Der Hund setzte sich und Simon ging auf die Suche nach Frank. Er umrundete einen alten Traktor, um zum Werkstattschuppen zu gelangen, als urplötzlich Jason vor ihm stand. Aus dem Nichts aufgetaucht wie ein Geist, ragte Julias Bruder jetzt so dicht und groß vor ihm auf, dass Simon erschrocken einen Schritt zurückstolperte.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Faust, die in seiner Magengrube landete, verschlug ihm den Atem. Simon krümmte sich zusammen und fiel auf die Knie. Jason packte ihn am Arm, riss ihn hoch und er hörte ein scharfes Knacken. Ein Höllen-schmerz schoss durch seine Schulter. Simon schrie und diesmal traf die Faust ihn mitten im Gesicht. Es knirschte, Blut lief ihm aus Mund und Nase und rann ihm die Kehle hinunter. Er hustete, schluckte krampfhaft und versuchte zu atmen.
»Tu dir selbst einen Gefallen und lass die Finger von meiner Schwester, du Spast«, fauchte Jason ihm ins Gesicht. »Sonst bringe ich dich um.«
Er versetzte Simon einen Stoß, der ihn rücklings gegen das Schutzblech des verrosteten Traktors warf. Seine Beine gaben nach, aber Jason drückte ihm den Unterarm gegen die Kehle. Simons Hände griffen ins Leere. Er röchelte, bekam kaum Luft, aber Jason verstärkte den Druck auf seine Luftröhre noch ein wenig. Schon begann Jasons wutverzerrtes Gesicht in einer Art Nebel zu verschwinden, da hörte Simon plötzlich ein scharfes Bellen.
Splash. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie der Hund grimmig knurrend seine gelben Zähne fletschte. Es war ziemlich eindeutig, wen er mochte und wen nicht. Jason ließ erschrocken von Simon ab und griff nach einer Eisenstange, um sich gegen den Dobermann zu verteidigen.
»Was ist denn hier los?« Es war Frank, der auf einmal vor ihnen stand und die Situation offensichtlich auch ohne eine Antwort sehr schnell erfasste. »Schon gut, Splash«, sagte er. »Jason wollte gerade gehen.«
Jason verzog sich wortlos. Der Hund knurrte ihm drohend hinterher.
Mit einem Mal gaben Simons Knie nach. Frank war mit einem Satz bei ihm und erwischte ihn noch rechtzeitig, ehe er stürzte. Simons linker Arm hing leblos herab und tat höllisch weh.
Frank brachte Simon in seinen Wohntrailer neben der Werkstatt. In der Küche verfrachtete er ihn auf einen Stuhl, drückte ihm den Kopf in den Nacken und ein Stück Küchenpapier unter die Nase. Simon hielt es mit seiner Rechten fest und es saugte sich sofort voller Blut.
»Junge, Junge«, sagte Frank, »der hat dich aber ganz schön zugerichtet.«
»Ich k-ann meinen Arm nicht bewegen«, stieß Simon mit schmerzverzerrtem Gesicht hervor. »Ich glaube, er ist ausgekugelt.«
Frank betastete Simons linkes Schultergelenk und zog die Stirn in Falten. »Am besten, ich bringe dich ins Krankenhaus.«
»Nein, warte.« Simon hob den Kopf.
»Was ist?«
»Ich hab keine Krankenversicherung.«
Mit einem Stirnrunzeln sah Frank ihn an. »Okay, dann musst du wohl oder übel mit mir vorlieb nehmen.«
Simon schloss die Augen und stöhnte. »Hast du das schon m-al gemacht?«
»Keine Angst, Kleiner. Ich krieg das schon hin.«
Frank half ihm aus seinem Hemd. Dabei war er ausgesprochen behutsam, was Simon neuen Mut schöpfen ließ. Anschließend musste er sich seitlich auf den Stuhl setzen, sodass der ausgerenkte Arm über die Lehne hing.
»Locker lassen, okay?«
»Ja, verdammt. Nun m-ach schon!« Der Schmerz ließ Simon halb ohnmächtig werden und er sah Sterne aufblitzen. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.
»Hast du etwa Angst, Kleiner?«
Noch ehe er ungehalten antworten konnte, hatte Frank so kräftig an seinem Arm gezogen, dass das Gelenk wieder in die Schulterpfanne zurücksprang.
Einige Minuten später hatte Simon zwar immer noch seinen eigenen Schrei im Ohr, aber der Arm ließ sich wieder bewegen und es tat auch nicht mehr so furchtbar weh.
»Was gibt es denn für Meinungsverschiedenheiten mit Jason?«, fragte Frank, während er Simon mit warmem Wasser das Blut aus dem Gesicht wusch. Den Kopf in den Nacken gebeugt, ließ er es mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen.
»Er will n-n-nicht, dass ich mit seiner Schwester zusammen bin«, nuschelte er.
»Und, bist du?«
»Glaub schon. Au! Fuck.«
»Du musst dich in Acht nehmen. Jason ist unberechenbar.«
»Ich weiß.«
Frank musterte ihn skeptisch. »Ich denke nicht, dass du eine Ahnung hast, wie gefährlich er ist, Kleiner. Jason ist ein drogensüchtiger Freak. Er nimmt Crystal Meth, ein übles Teufelszeug.«
Darauf entgegnete Simon nichts. Er hatte eigene Erfahrungen damit, aber das wusste niemand hier.
»Jason war n-icht auf Droge«, sagte er schließlich. »Und ich weiß nicht, was er auf einmal hat.« Bis jetzt hatte es Jason immer genügt, ihn zu demütigen und sich vor anderen über ihn lustig zu machen. Doch auf einmal war da dieser Hass, von dem Simon nicht wusste, woher er rührte.
»Ganz einfach«, sagte Frank. »Du warst Jason von Anfang an ein Dorn im Auge, aber eine wirkliche Gefahr warst du nicht. Zusammen mit dem Mädchen bist du es.«
»Gefahr? Ich versteh nicht . . .«
»Denk doch mal nach, Kleiner. Julia ist Adas Enkeltochter und ihr steht ein genauso großer Anteil an der Ranch zu wie Jason und Tracy. Außer den beiden Alten hat niemand ein Interesse daran, dass die Ranch weiterexistiert. Ausgenommen du. Du rackerst da draußen, als würde es um dein Leben gehen. Und dann schnappst du dir auch noch das Mädchen. Da sind bei Jason die Sicherungen durchgebrannt. Er hofft auf ein baldiges Erbe und nun sieht er seine Felle davonschwimmen.«
Simon musste lachen, aber es wurde nur ein ersticktes Husten daraus und wieder lief Blut aus seinen Nasenlöchern. Wenn Frank wüsste, wie es wirklich gewesen war. Dass er viel zu schüchtern war, um sich ein Mädchen einfach zu schnappen. Dass Julia ihn mochte, erschien ihm immer noch wie ein Wunder.
»Das ist d-d-doch alles Schwachsinn«, sagte er.
»Aber weh tut es trotzdem, oder?«
»Geht schon wieder.«
Frank verschwand und kam mit einem kleinen Beutel voller Eiswürfel zurück. »Gut kühlen«, sagte er, »dann schwillt sie nicht so an.«
Simon legte den Eisbeutel auf seine Nase und nach einer Weile ließ der Schmerz tatsächlich nach. Frank ging nach draußen, um den geschweißten Greifer auf den Truck zu laden, und Simon wankte auf die Toilette im hinteren Teil des Wohntrailers.
Im Spiegel begutachtete er den Schaden und was er sah, war nicht sehr ermutigend. Seine Nase, die seit einer Prügelei in der sechsten Klasse leicht nach links zeigte, hatte nun einen Knick nach rechts. Er versuchte, sie gerade zu rücken, aber es knirschte so schauerlich und der Schmerz sendete grellrote Blitze durch sein Hirn, dass er aufgab. Er wollte nicht in Franks Badezimmer in Ohnmacht fallen. Vor seinen Augen drehte sich alles und Simon klammerte sich am Rand des Waschbeckens fest, weil er Angst hatte umzukippen.
Seine größte Sorge galt Ada und dem, was er ihr erzählen sollte, wenn sie ihn so sah. Simon wollte vermeiden, dass die alte Frau etwas über den Zusammenstoß mit Jason erfuhr. Er hatte Angst, dass er dann nicht mehr auf der Ranch bleiben konnte, dem einzigen Zuhause, das er je gehabt hatte. Dem einzigen Ort, an dem er mit Julia zusammen sein konnte. Tränen des Zorns stiegen ihm in die Augen und er wischte sie mit seinem Handrücken weg.
Simon schlurfte zurück in Franks Küche. Er setzte sich und legte den Eisbeutel auf seine Nase.
Frank polterte durch die Tür. »Junge, Junge«, sagte er, »du musst bei Ada wirklich einen Stein im Brett haben, dass sie dich noch nicht davongejagt hat. Erst fackelst du ihren Ford ab und nun machst du dich an ihre Enkeltochter ran. Wie alt ist die Kleine überhaupt?«
»Fünfzehn.« Simon hustete. »Sie fuhr den Kombi, stimmt’s?« »W-oher weißt du das?« »Ich weiß es eben.« Frank pfiff leise durch die Zähne. »Na, wenn
das keine Liebe ist. Du scheinst das Mädchen ja richtig gern zu ha
ben.« »Es stört sie n-icht, dass ich stottere.« »Na, mich stört es auch nicht. Das alleine kann es also nicht sein.«
Frank zwinkerte ihm zu. »Ich hoffe, du heulst mir später nicht die Ohren voll, wenn sie nicht mehr da ist. Liebe über den Ozean hinweg, das klingt mir sehr nach Hollywood.«
Das Telefon klingelte und Frank ging ran. »Ja, ich sag’s ihm.« Er
legte auf. »Ada«, sagte er. »Sie fragt sich, wo du bleibst.« Simon erhob sich stöhnend. Frank reichte ihm sein Hemd. »Besser, du ziehst das wieder an.« Simons T-Shirt war auf der Brust voller Blut. Er zog sein Hemd
über und versuchte, es zuzuknöpfen. Aber die Finger seiner Linken fühlten sich taub an. Frank half ihm. Er knöpfte das Hemd so weit zu, dass man die Blutflecken nicht mehr sehen konnte.
»Danke, Frank.« »Schon gut, Kleiner. War mir ein Vergnügen.« »Wo hast du eigentlich g-g-gelernt wie man einen Arm einrenkt?« »Ich war in der Armee. Sanitätstrupp. Da lernt man so einiges.«
Simon stieg in den Truck und gab Frank das Geld für den Greifer.
Frank steckte die Dollarscheine in seine Hemdtasche und schlug die Tür zu. »Kannst du überhaupt fahren?«, fragte er durch das offene Fenster.
»Ja, es geht schon.«
»Nimm dich vor Jason in Acht.«
»Ich werd mir Mühe geben.«
Julia kam aus der Toilette, als Jason das Haus betrat und sich in der
Küche eine Coke aus dem Kühlschrank holte.
»Hi«, sagte sie.
»Hi, Schwesterherz.« Er musterte sie ohne ein Lächeln und Julia fühlte sich noch unbehaglicher, als sie es die ganze Zeit schon tat. »Was machst du denn hier?«, fragte Jason.
»Wir drucken Flyer für den Protestmarsch am Wochenende und Granny schreibt E-Mails.«
»Ist gar kein Auto draußen.« Er deutete mit der Coladose zum Fenster.
»Wir sind mit dem Truck hier. Simon ist bei Frank und muss was abholen. Er wird sicher gleich kommen.«
»Ach ja?« Jason leerte die Cola und schleuderte sie in den Mülleimer.
»Kann ich dich mal was fragen, Jason?«
Er sah sie an, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Gehen wir raus, okay? Mom erlaubt nicht, dass ich hier drinnen rauche.«
Sie gingen hinters Haus und Jason setzte sich auf die Kinderschaukel, die dort stand. Er zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch nach oben und sagte: »Schieß los. Wo drückt’s denn?«
Julia ließ sich auf der zweiten Schaukel nieder und hielt sich an der Kette fest. Jason kam ihr jetzt ganz normal vor, aber sie hatte nicht vergessen, wie er sich auf der Ranch aufgeführt hatte. »Hast du Simons Hund absichtlich überfahren?«, fragte sie.
Jason schniefte verächtlich. »Der Stotterheini hat mich mit einer Knarre bedroht, hast du das vergessen?«
»Hast du Pepper absichtlich überfahren, Jason?«
»Nein, verdammt.« Wütend kickte er einen Stein zur Seite. »Ich wusste ja nicht, ob die Knarre geladen ist und der Typ vielleicht ausflippt. Ich habe den Köter einfach nicht gesehen.«
»Okay.«
»Okay?« Jason sah sie an, als zweifle er an ihrer geistigen Gesundheit. »Nichts ist okay, verdammt noch mal. Wieso ausgerechnet er, Julia?«
Ihr Name aus seinem Mund. Es war derselbe raue Klang, als ob ihr Vater gesprochen hätte. Julia schluckte und spürte, dass ihr Groll sich legte. Ihr Bruder mochte noch so großspurig daherreden. Der Verdacht, dass auch er verletzlich war, ließ sie nicht los. Jason war ein vernachlässigter Junge, der Liebe brauchte. Genauso wie Simon. Nur dass sich das bei ihnen auf sehr unterschiedliche Weise äußerte.
»Ich hab ihn gern«, sagte sie leise.
»Er ist ein Niemand.«
»Wieso sagst du das? Du kennst ihn doch überhaupt nicht.«
»Du etwa? Du tauchst plötzlich hier auf und nach ein paar Tagen glaubst du, alles zu verstehen.«
»Ich hab nicht behauptet, irgendetwas zu verstehen«, widersprach Julia. »Seit ich denken kann, wäre ich gerne nach Nevada gekommen. Aber Pa wollte nur mit mir und meiner Mutter herkommen. Und Ada wollte meine Mutter nicht haben, also wurde nichts draus. Wahrscheinlich hat Granny geahnt, dass es Ärger geben würde.«
»Ja, nichts als Ärger, das ist es, was du machst.« Jason warf seine aufgerauchte Kippe auf den Boden und trat sie aus.
»Was tue ich denn, verdammt?« Julia platzte der Kragen. »Ich helfe zwei alten Leuten, die nicht wissen, wie sie all die Arbeit bewältigen sollen. Und Simon tut nichts anderes. Er bekommt einen Hungerlohn für seine Arbeit. Was also wirfst du ihm vor, Jason?«
»Der Stotterheini will sich doch bloß einkratzen bei Granny.«
»Simon will in Ruhe gelassen werden, nichts weiter. Und wieso hilfst du den beiden eigentlich nicht?«
Jason spuckte verächtlich auf den Boden. »Warum ich nicht helfe, Schwesterherz? Weil da draußen nichts mehr zu retten ist. Jeder Handschlag ist vergeudete Zeit. Der Stotterheini mit seinem Helfersyndrom zögert das Ende nur hinaus.«
»Das Ende?«
»Ach Scheiße, darüber red ich jetzt nicht.« Er stand auf und zeigte mit dem Finger auf sie. »Ich weiß, du kannst nichts dafür, dass du geboren bist. Es ist Dads Schuld. Er ist einfach abgehauen und hat Mom, Tracy und mich hier sitzen lassen. Das werde ich ihm nie verzeihen. Und was dich angeht...« Jason fasste nach den Ketten ihrer Schaukel und beugte sich bedrohlich über sie. »Sieh zu, dass du nicht noch mehr Schaden anrichtest, okay? Ruf deine Mom an und sag ihr, dass sie dich holen soll. Glaub mir, es ist besser so.« Jason presste die Lippen zusammen. Mit grimmiger Geste zog er an den Ketten, bevor er sie abrupt losließ und wieder ins Haus ging.
Julia stoppte das unfreiwillige Schaukeln und sah ihm nach, bis er hinter der Tür verschwunden war. Sie war so aufgewühlt von diesem Gespräch, dass sie beinahe nicht bemerkt hätte, wie der braune Truck tuckernd die Straße entlang kam.
Sie sprang von der Schaukel und lief zu Simon, froh darüber, dass er endlich wieder da war. Sie sehnte sich nach seinen Küssen und der Liebe in seinen Augen. Doch als sie den Truck erreichte, stieg er immer noch nicht aus. Verwundert öffnete sie die Beifahrertür und kletterte auf die Sitzbank. Als sie Simons Gesicht sah, den Eisbeutel in seiner Hand, kam ein Schreckenslaut aus ihrer Kehle.
»Was zum Teufel ist denn mit dir passiert?«
»Franks Dobermann w-ar hinter mir her und ich b-b-bin gegen den Eisenhaken vom Flaschenzug gerannt.«
Julia musterte ihn. Simon hatte einen Riss in der Oberlippe, sie war geschwollen, genauso wie das Nasenbein.
Sie wusste, dass er sie belog. Julia hatte mit eigenen Augen gesehen, wie gut Simon mit Franks Hund umgehen konnte. Plötzlicher Ärger durchzuckte sie, weil er ihr nicht vertraute. »Warum sagst du mir nicht, was wirklich passiert ist?«, fuhr sie ihn an.
»Flipp nicht gleich aus, o-kay? Ich erklär es dir später.« »Und wie geht es jetzt weiter?« »Du sagst deiner Granny Bescheid, dass ich da bin. Und wenn ihr
fertig seid, fahren wir auf die Ranch zurück.«